Wenn die Lauten gewinnen, verlieren die Leisen –
und wir Frauen über 60 mit ihnen

Kennst du das Gefühl, wenn du in einer Runde sitzt, etwas sagen willst – und schwups, der Moment ist vorbei?
Jemand war schneller, lauter, präsenter.
Willkommen im Club.
Wir leben in einer Zeit, in der man laut sein muss, um gehört zu werden – in der Politik, in den sozialen Medien,
selbst bei der Familienfeier. Wer leise ist, gilt als schwach. Oder schlimmer: als irrelevant.
Also trommeln alle, sind empört, provozieren. Hauptsache auffallen. Hauptsache Reichweite.
Aber was, wenn genau das unser Problem ist?
Was, wenn wir gar nicht mehr hinhören, weil uns die Lautstärke längst betäubt hat?
Es braucht kein Geschrei. Es braucht Bewusstsein. Und den Mut, leise zu bleiben.
Ich habe bis zu meiner Rente in einem Kirchenladen gearbeitet. Ein Ort, an dem Ehrenamtliche –
meist Frauen, manche über 80 – jeden Tag kommen, Kaffee kochen, zuhören, helfen.
Für viele ist das der einzige Ort, an dem jemand Zeit für sie hat. Da kommt die Frau,
der ein normales Café zu teuer ist, der Mann, der einfach jemanden zum Reden braucht,
und die alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wie sie den neuen Schulranzen bezahlen soll.
Die Ehrenamtlichen sind da und erwarten nichts. Keinen Applaus, keine Schlagzeilen.
Sie tun, was getan werden muss. Und genau sie sind es, die unser Land tragen.
Nicht die, die am lautesten „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ rufen.
Die Lauten reden vom Untergang.
Die Leisen halten ihn jeden Tag auf.
Wir wurden dazu erzogen, nicht aufzufallen. Wir haben gelernt, zu funktionieren – nicht zu fordern.
Wir haben Kinder großgezogen, Eltern gepflegt, gearbeitet, Krisen überstanden. Wir haben den Spagat
zwischen Familie und Beruf neu erfunden. Wir haben uns scheiden lassen, ohne uns zu schämen,
und Karriere gemacht, während andere noch fragten, ob das überhaupt geht.
Unsere Mütter kannten das nicht. Wir schon.
Und doch ziehen wir uns heute zurück. Vielleicht weil wir glauben, dass unsere Stimme niemanden interessiert.
Dass unsere Zeit vorbei ist. Doch das stimmt nicht.
Wir haben Lebenserfahrung. Wir haben Meinungen. Und wir wissen, wie man mit Herausforderungen
umgeht – auch wenn sie schwer sind.
Wir warten oft, bis man uns fragt. Doch genau deshalb übersieht man uns.
Dabei sind wir gerade jetzt gefragt. Nicht als Schreihälse, sondern als das, was wir sind:
klar, erfahren, gelassen.
Leise bedeutet nicht schwach.
Leise bedeutet: Ich weiß, wer ich bin.
Im Internet gewinnt, wer polarisiert. In der Politik ist der stark, der provoziert.
Wer einfach nur zuhört, wird überrollt von der nächsten Empörung. Wut bringt Klicks,
Empörung sorgt für Reichweite. Differenzierung? Fehlanzeige.
Wer sagt: „Es ist kompliziert“, verliert gegen den, der behauptet: „Es ist ganz einfach – die da oben sind schuld.“
Wer zugibt, dass er nicht alles weiß, verliert gegen den, der so tut, als hätte er auf alles eine Antwort.
Und wer still bleibt, weil er erst denkt und dann redet – der ist drei Aufreger zu spät.
Das Ergebnis: Unsere Stimmen fehlen.
Unsere Erfahrung geht unter im Lärm der Selbstgewissheit.
Die Debatten führen die Lauten – nicht die Klugen.

Wenn wir nur noch die Lauten hören, verlieren wir etwas Entscheidendes: Vertrauen.
Wir hören auf, wirklich zuzuhören. Wir verwechseln Meinung mit Wahrheit. Wir denken,
wer schreit, hat recht.
Ich sehe das in Talkshows: fünf Menschen, die gleichzeitig reden. Keiner hört dem anderen zu,
jeder will nur seinen Punkt machen. Am Ende weiß niemand mehr, worum es eigentlich ging.
Auch in der Politik ist das nicht anders. Da wird nicht mehr diskutiert, sondern geschossen.
Wer differenziert, gilt als schwach. Wer sagt, dass etwas komplex ist, gilt als unentschlossen.
Das ist gefährlich. Denn so verlieren wir die, die wirklich etwas zu sagen hätten.
Vielleicht haben wir es verlernt miteinander zu sprechen. Es ist nicht notwendig, dass wir alle
die gleiche Meinung haben; viel wichtiger ist es, dass wir uns gegenseitig verstehen.
Es ist entscheidend, dass wir lernen, unterschiedliche Ansichten zu akzeptieren,
ohne sie sofort abzulehnen. Denn nicht jede abweichende Meinung ist ein Angriff.
Oft ist es nur ein anderer Blick auf die gleiche Realität. Wenn wir wieder ins Gespräch kommen,
verlieren extreme Ansichten an Einfluss, und die Mitte rückt näher zusammen.
So können wir Lösungen finden, die vielleicht nicht perfekt, aber belastbar sind.
Reden heißt nicht, recht zu haben.
Reden heißt, gemeinsam weiterzudenken.
Ich bin über 60. Ich habe viel erlebt, gearbeitet, geliebt – und manchmal auch verloren.
Ich habe Krisen überstanden und gelernt, dass es für die meisten Dinge keine einfachen Antworten gibt.
Ich habe eine Meinung – eine klare Meinung. Aber ich schreie sie nicht hinaus.
Ich muss mich nicht vordrängen. Doch ich bin hier. Und wir sind viele.
Wir sind die Generation, die zuhört, abwägt und weiß, dass das Leben nicht nur schwarzweiß ist.
Genau deshalb sind wir jetzt gefragt.
Nicht, weil wir alles besser wissen – sondern weil wir wissen, dass niemand alles besser weiß.
Nicht, weil wir laut sind – sondern weil wir nicht laut sein müssen, um gehört zu werden.
Unsere Zeit ist nicht vorbei. Sie fängt gerade erst an.
Ich weiß, dass das ungewohnt ist. Einige denken: „Wer will denn schon hören, was ich zu sagen habe?"
Genau da liegt der Fehler.
Leute wollen hören, was du zu sagen hast. Sie merken nur nicht, dass du etwas zu sagen hast,
weil du es nicht sagst. Also fang an:
Du musst nicht laut sein. Aber du musst da sein.
Ohne „Aber vielleicht sehe ich das ja falsch."
und deine Meinung ist wichtig.
Gemeinsam sind wir lauter – ohne zu schreien.
Hab keine Angst vor Widerspruch. Widerspruch heißt: Du wirst gehört.
Das ist das Beste, was passieren kann.
Die Welt braucht keine weiteren Lautsprecher.
Sie braucht Menschen, die zuhören, nachdenken und sprechen, wenn es wirklich zählt.
Wir Frauen über 60 können das.
Wir sind nicht laut. Wir sind präsent. Und das ist genug.
Schreib mir:
Wann hast du dich das letzte Mal zurückgehalten, obwohl du etwas zu sagen hattest?
der Newsletter, auf den du dich freust
Mutmach-Brief für Frauen,
die Ihre zukunft JETZT gestalten wollen.
Geschichten, Ideen, praktische Erkenntnisse UND HUMOR